Leseprobe

Am Tage St. Bartholomäi

(1534)

Das Ziel der Pilgerschaft

Es war ein beeindruckendes Bild. Im gleißenden Sonnenlicht eines heißen August-tages drängten sich Hunderte von Männern und Frauen, meist in grauen oder braunen Mänteln und mit langen Stöcken in der Hand, vor dem Gotteshaus in Wilsnack im Kurfürstentum Brandenburg. Geduldig warteten sie, bis man auch sie in die kleine Seitenkapelle einließ. Einige rutschten die letzten Meter sogar auf den Knien. Heute, am Bartholomäustag, waren in der Kapelle die Flügeltüren des hölzernen, bunt bemalten Schrein aufgetan, und die fremden Pilger konnten mit eigenen Augen das kostbare Kristallgefäß sehen, in dem, wie sie wußten, die drei wundertätigen blutbefleckten Hostien eingeschlossen waren. Wer sein Ziel erreicht hatte, kniete ehrfürchtig nieder, bekreuzigte sich und ließ betend die Holzperlen seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten, um auch wirklich den Lohn der Wallfahrt, den vollständigen Ablaß1 all seiner Sünden zu verdienen.

Tewes2 Luidtke stand draußen neben dem Portal an einen der mächtigen Backsteinpfeiler der Kirche gelehnt. Mit der amüsierten Überlegenheit des Siebzehnjährigen beobachtete er das bunte Treiben auf dem weiten Platz vor der Kirche. Ihm war das alles so vertraut. Ja, es gehörte zu seinen frühesten Erinnerungen: er sah sich als ganz kleines Kind auf den Armen der Mutter, wie er aus dieser Geborgenheit auf das Gewimmel starrte. Tewes rechnete nach. Im Jahr des Herrn 1519 oder 1520 mußte das gewesen sein, denn seine Mutter war 1521 gestorben, als er noch nicht vier Jahre alt war. Auch damals war es wohl der Bartholomäustag, der 24. August, weil an keinem anderen Tag im Jahr so viele Pilger auf einmal in seine Vaterstadt Wilsnack zu kommen pflegten....

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1 Nach katholischer Auffassung der Erlaß für auf Erden begangene Sünden, die sonst im Fegfeuer zwischen Tod und Jüngstem Tag verbüßt werden müßten; für eine Pilgerfahrt zu einem Wallfahrtsort konnte die Kirche einen unterschiedlich langen Ablaß gewähren

2 Matthäus (niederdeutsche Namensform)


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